"Gehörlose dürfen doch gar keine Kinder kriegen?"

Screenshot Youtube-Video des Liedes Kahleet von SignMark. Man sieht einen weissen Mann im Unterhemd auf einer Treppe vor einem Haus sitzen. Er hat eine Hand nach vorne gerichtet, seine Mundwinkel sind weit nach unten gezogen.
In dem Lied Kahleet von SignMark geht es um die Zwangssterilisation und das Heiratsverbot von Gehörlosen in Finnland.

Leider begegne ich dieser Frage immer noch immer wieder. Obwohl heutzutage Gehörlose heiraten und Kinder kriegen dürfen, hält sich dieses Vorurteil hartnäckig. Irritierend dabei finde ich, dass die meisten die Geschichte dahinter gar nicht kennen. Dass ein Vorurteil, das seinen Ursprung in einem der grössten Verbrechen der Menschenheit - der Rassenhygiene der Nazis - und ein krasser Verstoss gegen die Menschenrechte darstellt, im Jahr 2020 einfach als Tatsache angenommen wird, finde ich persönlich gleich auf mehreren Ebenen erschreckend und sehr bedenklich. 

Der folgende Artikel ist nicht schön zu lesen. Bei der Recherche und beim Schreiben musste ich mehrmals unterbrechen, weil es mir zu viel wurde. 

 

 

Gehörlose galten absurd lange als geistig behindert, als unbildbar. Ich begegne tatsächlich heute noch Leuten, die so denken. So unwertes Leben wollte man früher natürlich anderen ersparen - Auftritt Nazis. In ihrer endlosen Barmherzigkeit setzten sie die Eugenik - die "Rassenhygiene" - knallhart um. Dabei wurden Menschen mit Behinderungen (später auch andere wie Juden, nicht-Arier, Sinti, Roma und viele mehr) getötet oder zwangssterilisiert, damit sich das "schlechte Erbgut" nicht weiter verbreiten würde. Ab 1940 hielt man sich nicht mehr mit Sterilisationen und Kastrationen auf, man ermordete die "Untermenschen" einfach gleich. Die offizielle Einf¨ührung der Sterilisationen von "niederen" Menschen wurde übrigens weltweit gefeiert: 1934 wurde im American Journal of Public Health Deutschland als erste moderne Nation bezeichnet, die mit dieser Einführung auf ein Ziel hinarbeite, das auch andere Länder erreichen wollten. Heute weiss man, dass Gehörlosigkeit nur bei 10% der Betroffenen erblich bedingt ist. Der eugenische Ansatz, um gehörloses Leben zu vernichten, war also nicht nur grausam, sondern auch wenig zweckerfüllend. 

Nach dem offiziellen Untergang des Nationalsozialismus hat man das dann etwas entschärft. Gehörlose (und viele, viele andere Menschen, wie unverheiratete Frauen, Menschen mit Behinderungen, "Kriminelle" etc.) wurden nicht mehr gleich abgeschlachtet, man liess sie einfach nicht mehr heiraten, oder nur, wenn die Frauen sich sterilisieren liessen. Wollten sie das nicht, wurden sie trotzdem zwangssterilisiert - oftmals ohne ihr Wissen. War eine Frau schon schwanger, wurde das Kind abgetrieben. Neugeborene, von denen man annahm, dass sie gehörlos sein könnten, wurden direkt getötet. Das jüngste bekannte Opfer von Zwangssterilisationen in Deutschland war erst 9 Jahre alt und gehörlos.

Konkrete Zahlen gibt es wenige, teilweise weil nie wirklich welche erhoben wurden, weil es niemanden interessierte und teilweise weil es einfach (heimlich) gemacht wurde, ohne dies den Betroffenen und/oder den Angehörigen zu kommunizieren - und zwar noch lange! 

 

Finnland beispielsweise verbot diese Praktik erst 1970. Bis dahin waren bereits 7530 im Namen der Rassenhygiene sterilisiert, wobei nicht klar ist, wie viele Gehörlose darunter sind, so genau wollte man das damals halt nicht wissen. Besser nicht zu genau darüber nachdenken, sonst könnte man noch merken, dass es sich dabei um Menschen handelte. Schweden verbot Zwangssterilisationen 1976. Bis dahin wurden 32,000 Menschen zwangssterilisiert. Norwegen und Dänemark schufen die Zwangssterilitationen 1977, beziehungsweise 1967 ab.

In der Schweiz wurden sie 1985 verboten, ausgeführt aber noch bis 1990. Auch hier gibt es keine genauen Zahlen zum Anteil der Gehörlosen. Insgesamt ist die Rede von "tausenden" zwangssterilisierten Frauen in der Schweiz. (Auch Männer wurden in der Schweiz zwangskastriert, Stichwort Verdingkinder.) Mehr auf humanrights.ch. In der Schweiz wurde übrigens die Zwangssterilisation von Menschen mit geistigen Behinderungen im Kanton Waadt bereits 1928 eingeführt, als Schutz vor Missbrauch.

In Japan gibt es von 109 Gehörlosen bis 1996 (nein, kein Tippfehler) Belege für die Zwangssterilisation, die wahre Zahl dürfte sehr viel höher sein. In Deutschland wurden allein zwischen 1933 und 1945 wurden circa 15,000 Gehörlose zwangssterilisiert, ab 1940 weitere 16,000 Gehörlose ermordet. Abgeschafft wurde das Gesetz aus der Nazi-Zeit erst 1988. 

 

Heute dürfen Gehörlose in der Schweiz also heiraten und Kinder kriegen, ohne dass jemand reinreden darf. Ich hoffe, dass das Vorurteil, dass das nicht möglich sei, endlich ausstirbt. 

Zum Abschluss möchte ich euch noch das Lied Kahleet (Shackles) von dem finnischen gehörlosen Musiker Signmark nahelegen. In seinem Video singt er in finnischer Gebärdensprache über dieses Thema, mit englischen Untertiteln. 

 

 

 

Weitere Quellen: (unvollständige Liste)

  • Heberer, Patricia (2011): Children during the Holocaust. Plymouth: AltaMira Press
  • Ryan, Donna F, Schuchmann, John S. (2002): Deaf People in Hitler's Europe. Washington: Gallaudet University Press
  • Amy, Jean-Jacques, Rowlands, Sam (2018): Legalised non-consensual sterilisation – eugenics put into practice before 1945, and the aftermath. Part 2: Europe. In: The European Journal of Contraception and Reproductive Health Care - April. 

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