Das magische Lippenlesen

Ich sitze im leeren Schulhaus an meiner Masterarbeit und versuche, den Gästen in der Shisha-Bar gegenüber von den Lippen abzulesen.

Doch, doch, ich bin voll konzentriert.

 

Funfact zum Lippen"lesen": In der deutschen Sprache kann BEI BESTEN BEDINGUNGEN (Beleuchtung gut, deutliche Aussprache, Lippen sichtbar etc.) gerade mal 30% an den Lippen erkannt werden. Der Rest ist Interpretation der Situation und der Körpersprache und ganz viel Rumraten. Der passendere Terminus zu "Lippen lesen" wäre also "raten". In der Fachliteratur wird heutzutage eher die Formulierung "von den Lippen absehen" verwendet.

 

Dass dem Typen in der Shishabar zu warm ist und er mit seiner Frau darüber diskutiert, dass Männer und Frauen unterschiedliche Ansichten zu Unterhemden haben, weiss ich also eher von ihrer Körpersprache, als dass ich das tatsächlich abgelesen hätte. Ich bin aber verdammt gut darin, Leute so zu lesen. Schüler*innen von mir fragten mich mal, ob ich Russisch könne, was ich irritiert verneinte. Sie sagten mir dann, ich hätte mehrmals richtig geantwortet, wenn sie auf Russisch miteinander redeten. Ich habe nicht mal gemerkt, dass sie nicht Deutsch sprachen, aber aus der Situation, der Mimik und der Körpersprache heraus war für mich absolut klar, wovon sie gerade redeten und reagierte entsprechend. Bäm, Deaf Superpowers!

Wer wissen möchte, wie schwierig und fehlerlastig Lippen "lesen" ist, dem empfehle ich dieses Video (und den Artikel dazu). 

 

Zurück zu den idealen Bedingungen zum Lippen"lesen": Nachrichtensprecher würden diese erfüllen, damit hat man aber immer noch erst 30% der Information. Der Rest lässt sich nicht ableiten, da die Nachrichtensprecher wie Stockfische dasitzen. Ich kann also vielleicht durch ein eingeblendetes Bild erkennen, dass es um Roger Federer geht. Aber die Mimik und die Körperhaltung des Nachrichtensprechers könnten alles Mögliche bedeuten. Vielleicht ist Federer gestorben, vielleicht hat er gewonnen? Keine Ahnung. Vielleicht erkenne ich: "Ro Federer gewonnen Wimbledon" (Wimbledon erkenne ich, weil Konnotation Federer-Tennis-Wimbledon). Vielleicht sagte der Sprecher aber: "Roger Federer hat nicht gewonnen." Und DESHALB braucht es Untertitel. Immer. Überall im TV.

Im Übrigen ist es fürs Lippen"lesen" essentiell, ein sehr grosses Wissen in möglichst vielen Bereichen zu haben. Ohne das kann man die Lücken nicht ausfüllen. Wenn ich also nicht weiss, wer Roger Federer ist, würde ich das Wort Wimbledon garantiert nicht ablesen können.

 

Wer noch mehr wissen möchte, findet noch mehr zum Thema beim Schweizerischen Gehörlosenbund oder Deutschen Gehörlosenbund  und/oder zahlreichen weiteren Fachseiten.

 

So, ich muss jetzt wieder an meine Masterarbeit.


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