Rollstuhl versus Hörimplantat

Der Rollstuhl hat ein Imageproblem. Das Hörimplantat hat ein Realitätsproblem.

 

Stephen Hawkings ist gestorben und die Zeitungen überschlugen sich mit Formulierungen wie "der an den Rollstuhl gefesselte Physiker", der "trotz seiner Behinderung" klug war und überhaupt war es unfassbar, dass "ein Behinderter" auch was erreichen konnte.

Sicher wie das Amen in der Kirche folgen auf solche Ausdrücke Kommentare von Menschen mit einer Behinderung, die um eine angemessene Sprache bitten. Viele schrieben, dass sie keineswegs "an den Rollstuhl gefesselt" seien, sondern im Gegenteil durch den Rollstuhl ein hohes Mass an Beweglichkeit und Unabhängigkeit erreichen können, was ihnen ohne Rollstuhl nicht möglich wäre. Noch sicherer folgen auf solche Erklärungen Antworten von Menschen ohne Behinderung, die erklären, warum ein Rollstuhl ganz furchtbar ist und man sich sicher daran gefesselt fühle. Denn. Sie wissen es ja bestimmt besser. So als Aussenstehende. 

 

Mal ganz davon abgesehen, dass Menschen im Rollstuhl jegliche Selbstwahrnehmung abgesprochen wird, erstaunt mich immer wieder die völlig unterschiedliche Sicht auf verschiedene Hilfsmittel. Für viele "Abled-Bodies" ist ein Rollstuhl ein Monstrum, das den Menschen mit einer Behinderung noch mehr behindert. Er IST in deren Augen die eigentliche Behinderung. Ganz anders die Sicht bei einem Hörimplantat. Das CI* wird völlig verklärt als Wunderheilmittel betrachtet. Man muss Gehörlose nur aufschneiden, dieses technische Wunder reinmachen, zunähen und die Engelein werden singen! Ehrlich! 

 

Schuld daran ist unter anderem die Werbung der Herstellerfirmen von Hörimplantaten (und auch von Hörgeräten). Dort wird eine so quietschglückliche Welt gezeichnet, dass sich vermutlich sogar hörende Personen spontan ein Hörimplantat wünschen. Und dann diese "Erstanpassungs-Videos" in den Social Media. Hach, ein Implantat macht aus jeder noch so traurig gehörlosen Person eine glückliche hörende! Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, aber: Ein Hörimplantat macht aus einer gehörlosen Person keine hörende Person. Eine gehörlose Person wird damit je nach Definition eine schwerhörige Person oder bleibt eine gehörlose Person, die hören kann. Gehörlosigkeit ist halt nicht einfach eine Behinderung, für viele Gehörlose ist das ein Teil ihrer Identität und ihrer Kultur. Darum besteht für sie auch kein Grund, "geheilt" zu werden. So oder so, ein Hörimplantat bleibt ein Hilfsmittel. Ein Wunderheilmittel ist es nie. Das Hörimplantat hat ein Realitätsproblem.

 

Vielleicht sollten Rollstuhlfirmen auch anfangen, Brechreiz verursachend kitschige Videos zu produzieren, in denen Rollstuhlfahrer völlig gewöhnliche Dinge machen und dabei über das ganze Gesicht strahlen, während im Hintergrund alle glücklich lächeln. Vielleicht braucht es Videos, in denen Kinder das erste Mal mit einem Rollstuhl in der Gegend rumdüsen, komplexe mathematische Gleichungen an uralten Tafeln lösen und Erwachsene im Rollstuhl sitzend zu zu Tränen rührender Geigenmusik wichtig wirkende Präsentationen halten. Vielleicht würde Otto Normalo dann erkennen, dass ein Rollstuhl Mobilität bedeutet und nicht Fesseln.

 

Und die Werbefritzen von Hörimplante-Werbung sollten dringend mal einen Realitätscheck machen. Noch so ein Video und ich verbrenne das Internet.

 

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Paul Schlesier (Samstag, 30 März 2019 18:25)

    Im Zug setzte ich mich in ein Abteil, in dem schon ein halbes Dutzend Kinder saßen. Vor der Abfahrt hielt auf dem Nebengleis ein Gegenzug für einige Minuten, und unserem Abteilfenster gegenüber saßen in dem anderen Zug auch einige Kinder. Plötzlich fingen die Kinder in beiden Zügen an, sich durch die Fenster hindurch in Gebärdensprache zu verständigen. Sie hatten in den wenigen Minuten offenbar ganz viel Spaß, und nur ich sah mich daran gehindert, irgendwas von allem zu verstehen.